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Hypnotherapie und Märchen

Rotkäppchen und der böse Wolf als Vorlage für Märchen in der Hypnotherapie

„Ist das jetzt ihr Ernst? Ich bin doch keine fünf mehr“, tönte mein Klient aus voller Brust und wollte die Sitzung abbrechen. „Märchen – so ein Quatsch. Was soll mir das helfen? Mein Problem ist doch, dass meine Frau mich verlassen hat.“ Er zeterte noch eine Weile weiter, bis der eine Satz fiel.

 

„Was haben Sie zu verlieren?“ Das traf ihn. Denn er steckte in einer tiefen Lebenskrise. Von der Ehefrau für einen jüngeren Besserverdiener sitzen gelassen und vom Chef degradiert, nachdem er immer unkonzentrierter wurde und nicht mehr 150 Prozent Leistung brachte wie vorher. Er setzte sich wieder. Und wir arbeiteten mit seinem Lieblingsmärchen: Bezeichnenderweise handelte es sich um Hänsel und Gretel.

 

 

Märchen haben in meiner hypnotherapeutischen Arbeit einen festen Platz. Lies weiter, wenn Du wissen möchtest warum und wie ich sie anwende.

Hypnotherapie und Märchen: Was sind Märchen

Die Gebrüder Grimm

 

Im Duden wird das Märchen definiert als „im Volk überlieferte Erzählung, in der übernatürliche Kräfte und Gestalten in das Leben der Menschen eingreifen und meist am Ende die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden“.

 

 

Unterschieden werden das Volksmärchen, das mündlich über viele Jahrhunderte überliefert wurde, keine feste Textgestalt hat und dessen Urheber unbekannt ist (zum Beispiel die Märchensammlung der Brüder Grimm) und das Kunstmärchen, dessen Autor bekannt ist (zum Beispiel Hans Christian Andersen: Des Kaisers neue Kleider). Eine Weiterentwicklung des Kunstmärchens finden wir zum Beispiel im kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry.

Hypnotherapie und Märchen: Was macht Märchen aus?

Zauberer, Hexe, Drachen, Feen im Märchen

 

Märchen haben ein paar klassische Merkmale, die sie von anderen Geschichten unterscheiden.

 

Prägend ist, dass keine Details zur Zeit, zum Ort oder zum exakten Aussehen von Personen genannt werden. So wissen wir zum Beispiel nicht, welche Haarfarbe Gretel hatte oder in welcher Landschaft sich das Dornröschen-Schloss befand.  

 

Allen Märchen haben gemeinsam, dass es eine Aufgabe oder Prüfung gibt, beziehungsweise ein Problem gelöst werden muss. So müssen Hänsel und Gretel zum Beispiel die Hexe aus dem Knusperhaus besiegen.

 

Es gibt im Märchen einen Helden und meist einen Gegenspieler oder Bösewicht. Das lässt sich wunderbar erkennen bei Schneewittchen und der bösen Stiefmutter, die es nicht aushält, nicht die Schönste im ganzen Land zu sein und deshalb einige fiese Mordanschläge auf sie ausübt.

 

Märchen vertreten eine animistische Weltsicht, das heißt, Tiere, Pflanzen und auch Gegenstände können sprechen und besitzen eine Seele, können selbst zum Handelnden werden. Bei Frau Holle zum Beispiel sprechen die Brote und wollen aus dem Ofen herausgenommen werden.

 

Charakteristisch ist auch, dass es im Märchen fantastische oder magische Wesen wie Hexen, Zauberer, Drachen, Feen und Zwerge gibt. Man denke an die böse Hexe, die im Froschkönig den Prinzen in einen Frosch verwandelt hatte.

 

Im Märchen kommen oft Reime, Verse oder Sprüche vor. Spontan fällt mir ein „Ruckedigu, ruckedigu, Blut ist im Schuh“ aus Aschenputtel oder „Heute back ich, morgen brat ich, übermorgen hol ich mir der Königin ihr Kind“ aus Rumpelstilzchen.

 

Oft spielen auch Zahlen eine besondere Rolle. Wie zum Beispiel „Sieben auf einen Streich“ im tapferen Schneiderlein oder die sieben Zwerge bei Schneewittchen.

 

 

Zudem gibt es – zumindest im Volksmärchen – in den allermeisten Fällen ein Happy End. So tötete im Rotkäppchen der Jäger den Wolf und die Großmutter aß den mitgebrachten Kuchen, während Rotkäppchen selbst beschloss, zukünftig auf ihre Mutter zu hören und nicht vom  Weg abzukommen. Und schließlich heißt es oft genug: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Hypnotherapie und Märchen: Wie sind Märchen aufgebaut?

 

Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast gliedert die Struktur eines Märchens in vier Phasen. Die erste Phase ist die Ausgangssituation. Darin wird das Problem dargestellt. Weiter geht es mit der Phase der Verdichtung. Darin wird der Weg dargestellt, den der Held gehen muss, bis er zur nächsten Phase kommt, nämlich dem Umschlagspunkt. Dort geschieht die Wandlung und macht den Weg frei zur vierten Phase, nämlich der Schlusssituation. Dort wird die durch die Wandlung neu entstandene Situation beschrieben.

 

 

Sehen wir uns das Ganze einmal näher an am Beispiel „Sterntaler“. In Phase 1 wird erzählt, dass Sterntaler Waise ist und nur noch die eigenen Kleider besitzt und ein Stück Brot in der Hand. In Phase 2 gibt das Mädchen nach und nach alles was sie ihr Eigen nennt ab, weil sie so herzensgut ist. In Phase 3 fallen dann die Sterne vom Himmel und erweisen sich als Goldtaler und sie bekommt ein neues Hemd. Phase 4 beschreibt, dass sie die Taler einsammelt und ihr restliches Leben lang reich war. 

Hypnotherapie und Märchen: Warum brauchen wir Märchen in der Arbeit mit Hypnose?

Der Held in uns - Märchen sind in der Hypnotherapie sehr hilfreich

 

Märchen funktionieren in der therapeutischen Arbeit besonders gut, weil sie Themen aufzeigen, die für das Leben unserer Klienten von Bedeutung sind. Es geht im Märchen natürlich nicht um chronischen Schmerz, die Flugangst, den Wunsch Nichtraucher zu werden oder Legasthenie. Aber es geht um die großen existenziellen Themen, die dahinter stecken: Abschied, Tod, Trauer, Angst, Liebe, einen neuen Lebensabschnitt beginnen, die Frage wer man eigentlich ist oder den Wunsch nach Sinn im Leben. Schon Freud vermutete, dass Märchen unsere innersten Wünsche und Ängste spiegeln wie keine andere geschriebene Geschichte.

 

Märchen machen es einem leicht, sich mit den Figuren zu identifizieren. Es fällt leicht, in die Geschichte einzutauchen und über die Probleme und deren Lösung nachzudenken. Im Sinne einer Dissoziation vermischt sich die Geschichte dann mit dem eigenen Leben und den eigenen Themen – und schwupps ist man mittendrin. Aber weit einfacher und gefahrloser, als würde man direkt über sich selbst nachdenken.

 

Märchen knüpfen an Kindheitserinnerungen an und ermöglichen auf diese Weise einen Zugang zur inneren Bilderwelt des Klienten. Hilfreich ist dabei, dass in den Geschichten oft archetypische Figuren vorkommen.

 

Das Konzept der Archetypen wurde von Carl Gustav Jung entwickelt. Damit gemeint sind universale Urbilder oder –figuren, die symbolhaft mit bestimmten Emotionen, Eigenschaften und Zielen verbunden werden. Es hat sich also gezeigt, dass egal wie alt jemand ist und in welcher Kultur er sozialisiert wurde, diese Archetypen immer die gleichen Gefühle und Assoziationen bei Menschen auslösen. Jung ordnet diese Figuren deshalb dem „kollektiven Unbewussten“ zu.

 

Er benennt folgende 12 Archetypen: der Held, der Liebende, der Unschuldige, der Magier, der Rebell, der Narr, der Herrscher, der Betreuer, der Entdecker, der Schöpfer, der Jedermann, der Weise.

 

Ein Beispiel für „Jedermann“ in einem Märchen ist für mich Hans im Glück. Nachdem Hans sieben Jahre bei seinem Herrn gedient hatte, nahm er den riesigen Klumpen Gold und machte sich auf den Weg nach Hause zu seiner Mutter. Er tauschte ihn im Verlauf für ein Pferd, dieses gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, dieses gegen eine Gans und jene letztendlich gegen einen schweren Schleifstein. Als er Rast machte, fiel der Stein in einen Brunnen und Hans hielt sich auf Grund dessen für den glücklichsten Menschen der Welt und kehrte pfeifend heim zur Mutter. Der Archetyp „Jedermann“ spiegelt den bodenständigen, traditionsbewussten, bescheidenen Menschen, der das Einfach im Leben bevorzugt.

 

Archetypen machen uns aber nicht nur die Identifikation leicht, sondern dienen auch manchmal als Steilvorlage für „Weise Ratgeber“ oder „Helferfiguren“, die wir in Hypnose mit dem Klienten erarbeiten möchten.

 

Märchen funktionieren auch deshalb in der therapeutischen Arbeit so gut, weil sie Denkmuster des Klienten spiegeln, die sich dann hinterfragen lassen. Zum Beispiel wird krasses Schwarz-Weiß-Denken des Klienten im Märchen als Kampf Gut gegen Böse dargestellt. Oder der depressive Klient hat die Erwartung, dass sich seine Lage nur ändert, wenn er von außen gerettet wird – da findet sich zum Beispiel die Märchen-Entsprechung bei Dornröschen, die durch den Kuss des Prinzen aus dem 100jährigen Schlaf erlöst werden muss. Wer oder was ist im realen Klienten-Leben der Prinz?

 

Verena Kast benennt Märchen als „Überlebensgeschichten“. Sie leben davon, dass Probleme gelöst werden oder dass man sich so weiterentwickeln kann, dass die Probleme keine mehr sind. Dass es unverhoffte Wendungen gibt. Dass es dem Helden durch Mut und Vertrauen gelingt, die Herausforderungen des Lebens zu meistern.

 

Und wenn man sich auf Märchen einlässt und die Bilder wie in der Therapie nah an sich heran lässt, wird man unweigerlich mit dieser vertrauensvollen Lebenshaltung angesteckt. Aber nicht nur diese Grundhaltung kann sich übertragen. Märchenfiguren geben immer alles, wecken aus dem tiefsten Inneren Ressourcen. Und sie können auch um Hilfe bitten, wenn sie selbst nicht weiter kommen. Ich denke dabei zum Beispiel an Maren, die die Regentrude, weckt, um der Dürre ein Ende zu bereiten und ihren Liebsten heiraten zu dürfen. Auch diese Eigenschaften können sich auf den Klienten übertragen und so zum Gelingen seines Lebens beitragen.

 

 

Man könnte also sagen, Märchen sind eine symbolhafte Darstellung seelischer Prozesse.

Hypnotherapie und Märchen: Märchenarbeit mit Hypnose im Einzelsetting

Märchenarbeit in Hypnose, Klient identifiziert sich mit König

 

Der Psychoanalytiker Hans Dieckmann behauptete in den 1960ern, jeder Mensch hätte ein Lieblingsmärchen oder eine Serie von Lieblingsmärchen gleichen Themas, das Entwicklungskonflikte spiegle. Verena Bertignoll, Kinderpsychologin aus Bozen, untersuchte 2006 diese Theorie in einer qualitativen Studie mit neun Kindern und fand heraus, dass sich im Lieblingsmärchen das subjektive Erleben des Kindes widerspiegelt. So lassen sich Hinweise zu Diagnostik und Therapie ableiten.

 

Unerfüllte Bedürfnisse und unbearbeitete Konflikte können sich bis ins Erwachsenenalter ziehen. Deshalb kann das Lieblingsmärchen auch im Erwachsenenalter eine sehr gute Technik sein, um an das Kernproblem heranzukommen – ohne dass darüber mit dem Klienten zunächst assoziiert gesprochen werden muss.

 

Wenn Du mit dem Lieblingsmärchen arbeiten möchtest, könntest Du so vorgehen:

 

1.      Frag Deinen Klienten in einer leichten Arbeitstrance, die Kommunikation erlaubt, welches Märchen ihm spontan einfällt. Meist kommen Klassiker wie Hänsel und Gretel, Dornröschen, Aschenputtel und so weiter. 

2.      Frag Deinen Klienten dann, welche Figur die Person besonders sympathisch findet in dem Märchen (An diesem Punkt passiert die Ich-Identifikation). Was macht diese Figur so sympathisch? Was kann die? Was kann die gar nicht? Worüber denkt sie nach? Was belastet sie? Was bräuchte sie eigentlich?)

3.      Frag Deinen Klienten dann, welche Figur als besonders unsympathisch empfunden wird im Märchen (Das steht meist für einen unerwünschten Ich-Anteil oder aber einen Gegenspieler im Außen. Was macht sie so unsympathisch? Wie ist die? Was tut die? Was müsste eigentlich mit ihr passieren?)

 

4.            Ab diesem Punkt hast Du zwei Möglichkeiten weiterzuarbeiten:

 

4a) Wenn die sympathische Person der „Held“ des Märchens ist, kannst Du die Ressourcen des Helden mit dem Klienten zusammen herausarbeiten. Wiederhole die Ressourcen ein paar Mal und frage den Klienten dann, ob der glaubt, dass ihm das auch in seinem Leben nützlich wäre. Wenn möglich, lass das gute Gefühl nach der „Positiv-Suggestions-Dusche“ im Körper verorten und ankere es.

 

 

4b) Wenn die sympathische Person nicht der Held ist oder sich keine Ressourcen finden lassen, lass den Klienten folgende Vorstellung ausprobieren. Mal angenommen man könnte das Märchen umschreiben: Wie würde der Klient wollen, dass es abläuft (Wunsch-Ende)? Wer müsste da was können, um zu dieser Lösung zu kommen? Wie erlangen diejenigen dieses Wissen, diese Fähigkeiten, um zu dieser Lösung zu kommen? Bei dieser Technik geht es darum, Selbstwirksamkeit zu trainieren und auf andere Art und Weise in ressourcevolles Denken und Handeln zu kommen. Diese Technik benötigt jedoch etwas mehr Steuerung und eine gute Technikbeherrschung von Seiten des Coaches/Therapeuten, um auch wirklich im Positiven zu landen. Deshalb ist es klug, sie erst einmal in Selbsterfahrung auszuprobieren. 

Mein Fazit zum Thema Hypnotherapie und Märchen

 

Märchenarbeit ist eine wundervolle Bereicherung des Hypnose-Repertoires und sehr wertvoll, weil wir damit oft dissoziativ und somit schonend arbeiten können. Sie ermöglicht Ressourcenarbeit, wo sonst oft keine Ressourcen zu finden sind. Und sie zeigt schnell Lebensthemen und Konflikte auf. Dazu arbeiten wir mit Bildern, die uns, weil uns das kollektive Unbewusste verbindet, als Coaches und Therapeuten ebenso zugänglich und bekannt sind. 

 

Wenn Du jetzt Lust auf Märchenarbeit bekommen hast, dann beginne damit, Dich selbst vorher mehr mit Märchen zu befassen. Welche Märchen kennst Du aus Deiner Kindheit? Und weißt Du wirklich noch, wie die Geschichte genau ablief? Welche Figuren eine Rolle spielen? Lies die „Märchenklassiker“ auf jeden Fall noch einmal selbst, bevor Du mit Märchen arbeitest – und zwar mit den Augen des Hypnose-Coaches/-Therapeuten. Falls Du kein Märchenbuch (mehr) besitzt, hier findest Du eine stattliche Märchensammlung im Internet. Und ich empfehle – wie auch für jede andere neue Technik, die Du kennenlernst – sie erst einmal selbst zu erleben. Viel Freude beim Eintauchen in die magische Welt!

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