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Das deutsche Gesundheitssystem: ein Risiko für die psychische Gesundheit

Das deutsche Gesundheitssystem: ein Risiko für die psychische Gesundheit

Dieser Artikel ist im Rahmen meiner eigenen Blogparade 2023 entstanden. Das Thema: "Psychische Gesundheit: Brauchen wir ein neues Gesundheitssystem und wie könnte das aussehen?". In diesem eben verlinkten Artikel findest Du den Aufruf zur Blogparade, wie Du mitmachen kannst und was es Dir bringt, dabei zu sein sowie einige Impulsfragen.

 

"Ja", rufe ich laut und deutlich, aus vollem Herzen und ganzer Überzeugung. Nein, ich stehe nicht vor dem Traualtar. Sondern ich beantworte die Frage, ob wir in Deutschland ein neues Gesundheitssystem brauchen, um die psychische Gesundheit sicherzustellen. In diesem Artikel begründe ich meinen persönlichen Eindruck, liefere aber auch neutrale Fakten und zeichne mein Wunschbild von einem unterstützenden, neuen System. 

Die Inhalte dieses Blogartikels

Status Quo im Gesundheitssystem: ein paar erschreckende Zahlen

Mein Psychologiestudium hat mich gelehrt, wissenschaftlich vorzugehen. Mir Zahlen, Daten und Fakten anzusehen. Und natürlich auch, dass man keiner Statistik trauen soll, die man nicht selbst gefälscht hat (*Augenzwinker). Anstatt einfach wilde Behauptungen über unser Gesundheitssystem aufzustellen, lasse ich einmal zusammengetragene Umfrage-Daten sprechen.

  • In einer Ipsos-Umfrage vom 10.10.2022 gab die Hälfte der Deutschen an, in jüngster Vergangenheit eine so hohe Stressbelastung verspürt zu haben, dass sie das Gefühl hatte, die Anforderungen des Lebens nicht mehr bewältigen zu können.
  • In einer weiteren Ipsos-Umfrage vom Herbst 2022 gaben 32 Prozent der 2000 Befragten zwischen 18 und 74 Jahren an, eine psychische Erkrankung zu haben. Besonders häufig wurde dabei mit 21 Prozent Depression angegeben, aber auch Angststörung, Essstörung oder Zwangsneurose. Besonders junge Menschen zwischen 18 und 34 Jahren waren häufiger betroffen. Frauen mehr als Männer. 
  • Im AXA Mental Health Report 2023 gaben die Teilnehmer der Befragung an, dass sich vor allem Preise und Lebenshaltungskosten (89 Prozent), Krieg (81 Prozent), Wirtschaft (76 Prozent) und Klimawandel (67 Prozent) auf ihr emotionales Wohlbefinden auswirken würden. Bei den 18- bis 24-jährigen wurden auch das eigene Körperbild und gesellschaftliche Erwartungen (jeweils 75 Prozent) genannt. Auch die ständige Erreichbarkeit über Mobilfunk, Internet und soziale Medien wurde als Einflussfaktor auf die eigenen Emotionen gesehen. 
  • Im Mental Health Report 2022 (Befragung von 1000 Deutschen im Herbst 2021) zeigte sich, dass die Mehrheit der Deutschen nicht richtig abschalten kann. 56 Prozent äußerten, sich niedergeschlagen und unruhig zu fühlen. 44 Prozent hätten keine positiven Gefühle mehr. 
  • Im DPtV Report Psychotherapie 2020 wurden die jährlichen Kosten für die Behandlung psychischer Erkrankungen mit 44 Milliarden angegeben. Nur vier Prozent davon entfallen jedoch auf Psychotherapie!
  • Im selben Report ergab sich ein durch Covid gestiegener Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung, der die ambulanten Versorgungsangebote überstieg. 2021 und 2022 habe es um 40 Prozent mehr Patientenanfragen nach ambulanter Psychotherapie gegeben. Nur ein Viertel davon habe einen Termin bekommen (Ergebnis aus Befragung von 4.653 Psychotherapeuten). 
  • Derselbe Report zeigte, dass 47 Prozent mehr als sechs Monate auf einen Therapieplatz für Richtlinienverfahren (sprich kassenbezahlte ambulante Psychotherapie) warten mussten (Zahl vom Juni 2022). 
  • 2021 gaben laut Statista 59 Prozent in einer Umfrage an, das Deutsche Gesundheitssystem zähle für sie zu den besten dreien der Welt. 
  • Laut einer Statista-Online-Befragung im Sommer 2022 (1000 Befragte zwischen 16 und 74 Jahre) gaben 14 Prozent an, ein Medikament zur Unterstützung der psychischen Gesundheit eingenommen zu haben. 17 Prozent gaben an, mit einem Berater, Psychologen oder Psychiater gesprochen zu haben
  • Der Mental Health Surveillance Bericht des RKI für das zweite Quartal 2023 nutzt Daten von monatlich 1000 bis 3000 Erwachsenen aus Telefoninterviews bis Mai 2023. Es zeigte sich eine insgesamt negative Entwicklung des psychischen Gesundheitszustands in der Bevölkerung. Zwischen 2019 und 2023 nahmen depressive Symptome vermehrt zu (von 10 auf fast 20 Prozent). Zwischen 2021 und 2023 traten gehäuft Angstsymptome auf (von 8 auf 14 Prozent). Auch die selbsteingeschätzte psychische Gesundheit verschlechterte sich. "Nach Corona" gab es keine Verbesserung der Lage, sie blieb stabil schlecht. Gerade Frauen, jüngere Personen und die Gruppe mit niedrigerem Bildungsniveau scheinen besonders betroffen.
  • Stiftung Gesundheitswissen (2023) berichtet, dass in Deutschland 14.576 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie beziehungsweise Nervenheilkunde arbeiten. 72 Prozent davon seien älter als 50 Jahre. 24 Prozent der Befragten gaben an, nicht zu wissen, wo sie hilfreiche Informationen zu psychischen Erkrankungen erhalten können. 

Was mich als Psychologin und Hypnotherapeutin am Gesundheitssystem frustriert

Dunkle Landschaft, ein Mensch allein, Symbol fürs aktuelle Gesundheitssystem
So sehe ich unser Gesundheitssystem gerade: der hilfesuchende Mensch wird in seiner Krise ganz schön allein gelassen. Dieses Bild wurde mit Canva Magic Media KI-gestützt erstellt.

 

Psychische Erkrankungen werden immer noch anders gehandhabt als ein gebrochener Fuß. Sind mit viel mehr Stigma in der Gesellschaft verbunden. Es braucht viel mehr Aufklärung über psychische Erkrankungen und wie man damit umgeht. Schon im Schulalter. Und nicht nur dann, wenn sich ein berühmter Fußballtorwart suizidiert.

 

Sich Hilfe zu suchen ist für viele schwierig. Sie wissen nicht genau wo und wie. Und wenn sie es wissen, ist der Zugang mit einigen Hürden verbunden. Es gibt viel zu wenig zugelassene Therapeuten und somit zu wenig Therapieplätze. Durch Corona hat sich die Lage noch deutlich verschärft. Für akut betroffene Klienten sind die Wartezeiten viel zu lang. Übrigens nicht nur für ambulante, sondern auch für stationäre Angebote. Es ist ein Unding, dass die Wartezeit auf einen akut-psychosomatischen Aufenthalt mehrere Wochen beträgt. Oft bleibt dann in der Not nur der Gang in die Psychiatrie. Oder das Nichtstun und somit die Chronifizierung der Beschwerden. Dies ist weder für den Klienten noch für den Kostenträger gut, wenn eigentlich eine ambulante Versorgung möglich gewesen wäre. 

 

Als sehr schwierig empfinde ich auch, dass es für viele Klienten keine Behandlungskontinuität gibt. Sie begeben sich zum Beispiel in stationäre Behandlung. Öffnen sich - vielleicht zum ersten Mal - einem Therapeuten. Nach wenigen Wochen endet der Aufenthalt, das Problem aber nicht. Und dann geht es nicht weiter. Keine Möglichkeit, direkt ambulant anzuknüpfen. Viele sind dann wieder weg, wenn drei Anrufe beim Therapeuten nur auf einer Warteliste enden. 

 

Häufig wird auch zu kurz behandelt. Was sind schon zehn, zwanzig Sitzungen auf ein Problem, das seit Jahrzehnten besteht? Aber darum soll es hier nicht gehen, denn über die Ver-Kurzzeit-isierung in der Therapie habe ich bereits einen eigenen Blogartikel verfasst.

 

Zum Schluss noch eine Sache, die mich richtig aufregt: Warum bezahlen Kostenträger so wirksame Methoden wie Hypnotherapie, Kunsttherapie und andere kreative, alternative Behandlungsansätze nicht, wenn entsprechende Grundqualifikation des Behandlers nachgewiesen werden kann? Meinetwegen könnte es noch Beschränkungen geben wie viele Jahre man im Beruf ist. Wo man Ausbildung gemacht hat etcetera. Oder dass man regelmäßig Supervision nachweisen muss. Aber halst den hilfesuchenden Menschen nicht auch noch volle Kosten auf! Häufig wird ja genannt, dass noch Studien zur Wirksamkeit oben genannter Methoden fehlen. Dann bitteschön: lasst uns diese Studien endlich anfangen. Denn in meiner Praxis sehe ich täglich, dass diese Techniken wirken!

Das gilt es an unserem Gesundheitssystem wertzuschätzen

Trotz aller Kritik gibt es auch durchaus positive Dinge am deutschen Gesundheitssystem, die vor allem dann zutage treten, wenn man es mit anderen Systemen vergleicht oder mal 100 Jahre in der eigenen Geschichte zurück geht. 

 

Es gilt wertzuschätzen, dass den Menschen psychische Krankheiten nicht abgesprochen werden und es geeignete Behandlungsmaßnahmen dafür gibt. Noch in den 1920ern sah das zum Beispiel ganz anders aus. Kriegstraumata wurden geleugnet. Die betroffenen Soldaten galten einfach als verweichlicht. Psychisch Kranke wurden auf isoliertem Gelände weggesperrt. "Therapien" bestanden häufig aus Folter: Elektroschocks oder Übergießen mit kaltem Wasser war an der Tagesordnung.

 

Es gilt wertzuschätzen, dass die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Behandlung groß ist. Es gibt nicht nur Medikamente, sondern auch ambulante und stationäre Therapie, die von Kostenträgern übernommen wird und jedem Versicherten zur Verfügung steht - ungeachtet Alter, Geschlecht, Einkommen und so weiter. Klienten können wählen, ob sie sich in Verhaltenstherapie oder Konzentrativer Bewegungstherapie besser aufgehoben fühlen. Ob Autogenes Training oder Yoga die meiste Entspannung bringt. 

 

Auch positiv ist das Bemühen darum, Negativtrends zu erkennen (zum Beispiel im Suchtreport) und mit entsprechenden Projekten gegenzusteuern (zum Beispiel Suchtaufklärung an Schulen). 

Meine Vision von einem unterstützenden Gesundheitssystem

Ich wünsche mir ein Gesundheitssystem, das ausgerichtet ist an einem wertschätzenden, ressourcenorientierten Menschenbild. Jeder hat ein Recht auf psychische Gesundheit. Jeder kann mit der richtigen Unterstützung ein psychisch stabiles Leben führen. Die Heilung kommt nicht von außen, sondern von innen und es ist die Aufgabe der Behandler, zu erkennen, was es im Innen braucht. 

 

Ich wünsche mir Aufklärung über psychische Erkrankungen, die leicht zugänglich ist. Jeder soll sich ganz unkompliziert informieren können. Depressionen, Ängste und Co dürfen kein Stigma mehr sein, sondern alltägliche Phänomene, die jeder mal haben kann und die sich bewältigen lassen, weil sie früh genug erkannt und behandelt werden. 

 

Bevor psychische Erkrankungen überhaupt entstehen, sollten Gefahren erkannt werden und viel mehr kostenfreie Präventionsangebote installiert werden. Wie baue ich Stress ab? Wie gehe ich mit dem Klima der Angst um, das durch Krankheit, Krieg und Inflation unweigerlich entsteht? Wie kann ich Krisen als Chance nutzen?

 

Wenn dies aber nicht reicht und die Probleme übermächtig werden, wünsche ich mir, dass Menschen ganz leicht, ohne große bürokratische Hürden, ohne lange Verpflichtung niedrigschwellig Hilfe finden. Dass es so viele gut ausgebildete Therapeuten gibt, dass diese Angebote zu jeder Zeit hochprofessionell sind. 

 

Ich wünsche mir viel geringere Wartezeiten auf Therapieplätze. Mehr Möglichkeiten, auch kreative und alternative Therapieformen vom Kostenträger bezahlt zu bekommen (so lange der Behandler nicht nur eine Wochenendausbildung dazu absolviert hat ohne entsprechenden gesundheitlichen Grundberuf). 

 

Ich wünsche mir eine bunte, den Millionen Individuen gerecht werdende, therapeutische Landschaft ohne Grabenkämpfe darum, welche Technik die beste ist. 

 

Bunte therapeutische Landschaft
So stelle ich mir diese Landschaft vor. Am Ende des Weges die Gesundheit. Die bunten Farben stehen für verschiedenste Hilfsangebote. Nie alleine auf dem Weg sein müssen. Dieses Bild wurde mit Canva Magic Media KI-gestützt erstellt.

 

Und jetzt freue ich mich auf Diskussion, auf eure Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen. Auf eure Ideen und Anregungen. Auf eure Visionen von einem für die psychische Gesundheit gut funktionierenden Gesundheitssystem. Anleitung wie man mitmacht gibt es in meinem Aufruf zur Blogparade 2023. Jetzt mitbloggen und mitbauen am Fundament der Veränderung!

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Kommentare: 1
  • #1

    Marita Eckmann (Mittwoch, 08 November 2023 09:18)

    Liebe Julia,
    ich habe mir lange überlegt, ob ich an Deiner Blogparade teilnehmen soll, mich dann aber doch dagegen entschieden. Warum? Weil ich zwar in meiner Coachingpraxis auch viel miterlebt und erfahren habe, Johannes in seiner Arbeit mit Klienten auch, wir selbst aber immer Wege außerhalb des Gesundheitssystems gegangen sind. Hätten wir darauf gewartet, dann sähe unser (Innen)Leben definitiv anders aus. Nicht, dass wir Millionen auf dem Konto hätten, aber ich habe einfach gesehen, dass es so viele wunderbar wirksame Methoden gibt und um sie zu nutzen haben wir auf sehr viel in unserem Leben verzichtet. Haben uns vieles nicht geleistet, was für andere völlig normal ist. Ich finde es fast schon sträflich, dass die vielen hochwirksamen Methoden nicht von den Kassen anerkennt werden. Noch nicht mal teilweise. Wo doch erlebbar und sichtbar ist, wie gut sie den Menschen tun. Wir bewegen uns in diesem Bereich teilweise wie im letzten Jahrhundert. Dafür investieren wir Millionen in technischen Firlefanz, der uns dann geradewegs in die nächste mentale Krise schleudert. Ich stimme Dir in allem zu und finde es alarmierend, dass alle wegschauen. Dabei besteht unsere Gesellschaft und unsere Zukunft doch aus jedem einzelnen. An der Stelle höre ich besser auf und sende Dir liebe Grüße! Marita