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Ver-Kurzzeit-isierung in der Therapie: warum schnell-schnell in die Sackgasse führt!

Ver-Kurzzeit-isierung in der Therapie

Ich habe nichts gegen Kurzzeittherapie. Ich praktiziere sie sogar sehr häufig. Denn Hypnose ist dafür bekannt, sanft und gleichzeitig schnell sowie effektiv zu sein. Aber ich habe etwas gegen standardmäßige Ver-Kurzzeit-isierung. Mir ist bewusst, dass diese Form von Intervention nicht für jeden Klienten richtig ist. Bei Traumata, sehr lang bestehenden Problemen, chronischen Schmerzzuständen und so weiter ist mit einer Unter-zehn-Sitzungen-Politik kein Blumentopf zu gewinnen. 

Die Inhalte dieses Blogartikels

Wie kam es zur Ver-Kurzzeit-isierung in der Therapieszene?

Das typische Therapiebild, das viele Leute in sich tragen, beinhaltet eine Couch, Seelenstriptease vor einem Therapeuten, der wenig von sich preisgibt und das Wiederkäuen der Kindheit - vom Tag der Zeugung an. Jeden Dienstag. Und das über Jahre. Kassenbezahlt ohne Eigenanteil. Psychotherapie war bisher in den Köpfen der Menschen etwas Großes und Langwieriges. Mit ein Grund, warum viele zurückzuckten, sich abgeschreckt fühlten. In die heutige Höher-Schneller-Weiter-Gesellschaft, in der alles optimiert wird bis zur Unterwäsche, mag dieser lange Weg aber nicht so recht passen. Keine Zeit für Gesundheit. 

 

Seit einiger Zeit beobachte ich deshalb den Trend, dass immer mehr Kurzzeittherapien und Wochenend-Coachings angeboten werden. Es wird suggeriert: egal wie lange Dein Problem besteht, egal wie schlimm es ist, egal wie tiefgreifend: Es gibt eine flotte Lösung. 

 

Auch Kostenträger machen Druck. Es gibt zu wenig freie Therapieplätze. Da muss der Turbo gezündet werden, um schneller den Platz an einen anderen Klienten vergeben zu können. Das belegen auch Studien. Laut Deutscher Psychotherapeutenvereinigung wurden 77 Prozent der Therapien im Rahmen von Kurzzeittherapie (bis maximal 24 Sitzungen) erbracht. Die Studie berücksichtigt die Jahre 2016 bis 2021 (Hentschel und Böker, 2023). In der Vorgängerstudie aus den Jahren 2009 bis 2012 (Multmeier und Tenckhoff, 2014) waren es nur 70 Prozent Kurzzeitinterventionen. 

 

Eine Rolle dabei spielt auch Covid. Denn in dieser Zeit sind die Klientenzahlen nach oben geschossen, die Therapieangebote aber nicht mehr geworden. Psychosomatische Rehabilitation war kaum zugänglich. Akutangebote nur mit stark eingeschränktem Programm. Alles was nicht unbedingt jetzt sein musste, wurde verschoben. Schnelles Durchschleusen und Filtern wie bei einer klassischen Triage in der Medizin wurden teilweise praktiziert: Wer hat schwere Depressionen, Fatigue-Syndrom oder schwere somatoforme Probleme? Und wer hat "nur" Existenzängste und einen verlängerten Schnupfen? 

Was bedeutet Ver-Kurzzeit-isierung für den Klienten?

Wann kommt ein Klient zu uns? Erst dann, wenn der Leidensdruck zu hoch wird. Oft erst, nachdem das Problem schon seit Jahren besteht. Nachdem weder Abwarten noch eigene Ressourcen einzusetzen etwas gebracht hat. Da hat sich meist jede Menge angesammelt. Beschwerden sind häufig chronifiziert. In Bezug auf eine Kurzzeittherapie gibt es nun mehrere Schwierigkeiten

  1. Die Klient-Therapeut-Beziehung ist ein wesentlicher Wirkfaktor jeder therapeutischen Intervention. Es benötigt ein paar Sitzungen, um eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Eine, die es ermöglicht, sich in allen Defiziten anzuvertrauen. Gerade für traumatisierte Menschen oder Menschen, die bereits schlechte Erfahrungen mit Therapie gemacht haben, ist das eine große Herausforderung, die nicht innerhalb von wenigen Stunden bewältigt werden kann. 
  2. Es ist möglich, zu erkennen, was das Problem ist. Auf der Symptomebene eine erste Entlastung zu erreichen. Änderungsmotivation aufzubauen. Ressourcen zu aktivieren. Es ist aber nicht möglich, tiefe Verletzungen, frühe Bindungsdefizite oder aus der Bahn werfende Life-events gänzlich zu bearbeiten
  3. Häufig melden sich Klienten mit einem eher harmlosen Thema an. Bei mir in der Praxis zum Beispiel oft Raucherentwöhnung. Eine klassische Kurzzeit-Behandlung. Dahinter liegt jedoch eine ganz andere, viel tiefere Problematik. Die Bandbreite reicht von Ehekonflikten, Trauerprozessen bis zu sexuellem Missbrauch. Es macht jedoch keinen Sinn, nur den Deckel zu polieren und ihn dann auf den Topf mit den angebrannten Speiseresten zu setzen. Das Nicht-Raucher-werden wäre höchstwahrscheinlich nicht erfolgreich, so lange das Grundthema nicht beachtet wird. 
  4. Kurzzeitherapie ist darauf getrimmt, effektiv zu sein. Deshalb werden Ablenkungen vom Ziel häufig getilgt ("Hat das damit zu tun, was Sie in der Therapie erreichen wollen? Nein? Dann würde ich vorschlagen wir machen dort weiter, wo wir zuletzt aufgehört haben"). Dies entspricht nicht dem Grundsatz "Störungen haben Vorrang". 
  5. Veränderungen brauchen Zeit. Manches muss auch im Klienten erst reifen. Wenn sich zu schnell zu Vieles verändern soll, wächst der Druck auf den Klienten. Er fühlt sich überfordert. Widerstand kommt hoch. Im schlimmsten Fall erfolgt ein Therapieabbruch. Häufig auch eine Verschiebung der Problematik. Die Fressattacken sind weg. Aber jetzt werden eineinhalb Liter Kaffee am Tag getrunken. 
  6. Und auch der Druck auf den Therapeuten ist groß. Wenn nicht schnell genug Veränderung eintritt, gerät er zunehmend in die Rolle des Ratschlägers. Des Mächtigen, der doch bitte schnell zaubern soll, damit sich endlich etwas ändert. Die Verantwortung sollte beim Klienten gelassen werden. In ihm liegt alles, was er braucht, um seine Themen zu bearbeiten. Wir sind die Wegbegleiter. Die Pfadfinder. Nicht mehr. 

Ver-Kurzzeit-isierung und die Zukunft

Ich sage der standardmäßigen Höher-Schneller-Weiter-Therapie den Kampf an. Natürlich sollte jeder Therapeut bestrebt sein, so gut und effektiv er kann zu arbeiten. Das ist gerade vor dem Hintergrund Verpflichtung, dass viele von uns auf Selbstzahlerbasis arbeiten. Es geht nicht darum, den Klienten auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Es geht nicht darum, ihn zu behalten, weil man fürchtet, ansonsten Geld zu verlieren, weil der Platz noch nicht nachbelegt ist. Kein künstliches Verlängern, kein Hinhalten. Mach Deine Arbeit bestmöglich!

 

Aber nimm den Druck raus. Für Deinen Klienten und Dich. Jeder hat ein individuelles Tempo der Veränderung. Und das darf keiner Politik, keinen Vorgaben von Außen, keinem Termindruck, keiner Warteliste zum Opfer fallen. Es braucht eben so lang wie es braucht. 

Zitat Julia Georgi gegen die standardmäßige Kurzzeit-Therapie

 

 

Es ist wichtig, sich nicht gleich im Erstgespräch hinreißen zu lassen, die Frage nach dem "Wieviele Sitzungen wird das in etwa dauern?" mit einer konkreten Zahl zu beantworten. Sich nicht festnageln zu lassen auf etwas, was nur ein Hellseher wissen könnte. Oder gar um den "Deal mit dem Klienten" auf jeden Fall zu machen, absichtlich zu untertreiben à la "Das bekommen wir schon hin in fünf Sitzungen". 

 

Es bedarf einer sinnvollen Aufklärung wieviel und was in welchem Zeitraum möglich ist. Dass es möglich ist, das tiefere Thema zu benennen, Ressourcen hervorzuholen, den Klienten zu stärken und erste Symptomverbesserung zu erreichen innerhalb von einigen Sitzungen. Dass aber etwas, was bereits dreißig Jahre besteht, nicht in zwei Wochen "wegtherapierbar" ist. 

 

Die Zukunft muss sein, wegzukommen von den klassischen Lehrbuch-Modellen. Eine Raucherentwöhnung dauert nicht immer drei Sitzungen. Ein Psychotherapeut beantragt nicht standardmäßig 25 Stunden. Nicht der Mensch muss sich ins Raster quetschen, sondern der Klient ist König. Seine Bedürfnisse das Maß der Dinge. 

 

Und seien wir ehrlich: Wie oft kommen sie in der Praxis vor, diese Bilderbuch-Prozesse wo alles nach Plan läuft? Häufiger ist es doch, dass irgend etwas dazwischen kommt, wenn man gerade auf einem guten Weg ist. Die Mutter stirbt. Ein Jobwechsel steht an. Die Wohnung wird unbewohnbar wegen eines riesigen Wasserschadens. Und schwupp wird beim Klienten aus angehender Stabilität Wackelpudding. Und für den Therapeuten besteht die Notwendigkeit, das aktuelle Thema, um das sich alles dreht, aufzunehmen, in den Prozess einzubauen. Das dürfen wir uns erlauben, ohne in unseren Terminkalender zu schauen. Ganz flexibel. 

 

Mein Fazit lautet also: Kurzzeit-Behandlung ist grundsätzlich super. Um Anstöße zu geben. Zusammenhänge zu verstehen. Kleinere Dinge zu lösen. Um zu motivieren. Zu wem sie passt, ist sie das Mittel der Wahl. Aber es darf nicht die Regel sein, für schwerst beeinträchtigte Klienten nur wenige Wochen Therapie einzukalkulieren. Und schon gleich nicht, diesen Menschen die kurzfristige Wunderheilung in den Kopf zu setzen. Es darf nicht passieren, dass sich Therapeuten dem Druck von Außen beugen und gegen die eigene Überzeugung handeln. Individuality rules!

 

Schluss mit höher, schneller, weiter

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Kommentare: 2
  • #1

    Danielle Berg (Sonntag, 01 Oktober 2023 20:26)

    Liebe Julia,
    du sprichst mir so sehr aus dem Herzen! Jeder Klient, jedes Thema muss individuell betrachtet werden und jeder Prozess ist einzigartig. Deshalb tue ich mich auch immer sehr schwer dabei, vorherzusagen, wieviele Sitzungen benötigt werden.
    Bei mir sind es oft die Eltern, die voller Ungeduld hoffen, dass ihre Kinder schnell ihr Verhalten ändern. Meine Aufgabe sehe ich darin, sie immer wieder auszubremsen und kleine Schritte zu gehen.

    Liebe Grüße
    Danielle

  • #2

    Kerstin Buser (Samstag, 21 Oktober 2023 21:09)

    Liebe Julia,

    ich stimme Dir zu 100% zu, denn es deckt sich auch mit meinen Erfahrungen. Es ist SO beruhigend das hier zu lesen! DANKE! Liebe Grüße Kerstin