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Zu Tode digitalisiert - das macht mich rasend!

Julia Georgi macht sinnfreie Digitalisierung rasend: Zu Tode digitalisiert

 

Es reicht. Bis zu den Knien stecke ich im zähen, zeitraubenden Schlamm, der sich Alltag nennt. Mit all seinen sinnvollen und auch weniger sinnvollen Pflichten. Und dann kommt eine Nachricht um die Ecke. "Hurra - es gibt etwas Neues", denke ich noch so. In der Hoffnung, meinem Alltag neue Siebenmeilenstiefel anzuziehen, mit denen ich dem Morast entkommen kann. Und stattdessen trifft mich die Digitalisierungs-Keule volle Breitseite. Schwupps - zu Tode digitalisiert. 

 

In den letzten Tagen habe ich zwei Dinge erlebt, die mich maßlos geärgert haben. Die ich trotz großer Anstrengung meiner durch Studium gestählten grauen Zellen nicht nachvollziehen kann. Ich beobachte, dass gerade eine riesige Digitalisierungs-Bullshit-Welle über uns hinweg schwappt, die unser Leben eher verkompliziert anstatt etwas zu erleichtern. Lies selbst, warum ich mich so aufrege, obwohl ich Digitalisierung grundsätzlich begrüße.

Die Inhalte dieses Blogartikels

Digitalisierungs-Drama Teil 1: Im Kindergarten

Es riecht nach Käsefüßen, schwitzenden Körpern und den Resten eines Mittagessens vom Lieferdienst. Quietschgrün und viel Holz empfängt mich. Ein „Bitte Schuhe ausziehen“-Schild und die Nachricht, dass „wir“ aktuell Magen-Darm, hohes Fieber und Bindehautentzündung haben. Ich betrete den Kindergarten, um meine Tochter abzuholen. Vor meiner Nase das Regalfach, das mit ihrem Bild versehen ist. Darauf liegen einige Zettel. Nicht nur ein paar tolle selbst gemalte Bilder von Einhörnern unterm Regenbogen. Nein – auch der Schrecken aller Erziehungsberechtigten, der sofortige Arbeit verheißt: E-L-T-E-R-N-B-R-I-E-F.

 

Ich packe mein Kind und das Papier ein und kämpfe mich durch die Masse an Abhol-Eltern mit gestressten Gesichtern nach draußen. Ich parke mein Auto aus der Feuerwehrzufahrt aus, die ich benutzen muss, weil es keine freien Parkplätze gibt. Gelobt sei die Zeit, in der alle gleichzeitig ihre Kurzen mitnehmen. 

 

Zuhause angekommen setzen wir uns an den Esstisch. Während meine Tochter ihr Mittagessen reinschaufelt, befasse ich mich mit dem Brief. Denn ich bin so ein Typ, der Dinge gerne gleich erledigt.

Der Inhalt bürstet meine Haare jedoch sofort gegen den Strich. Ab sofort gibt es eine Kindergarten-App. Eltern mögen sie doch bitte aufs Handy laden. Denn ab sofort meldet man sich per App krank. Per App werden die Anwesenheitszeiten des Kindes erfasst. Und alle Elternbriefe gibt es jetzt auch digital. Die Begründung: Dann können sich die Mitarbeitenden (bitte schön gendern, damit sich niemand ausgeschlossen fühlt) wieder der Verwaltung ab- und den Kindern zuwenden. Denn darum gehe es doch eigentlich.

 

Ich lege das Pamphlet inklusive Datenschutzerklärung erst einmal beiseite. Nach meinem fordernden Arbeitstag möchte ich mich weder ärgern noch Beschwerdebriefe verfassen. Und ganz sicher will ich mich nicht reinsteigern um vielleicht den Telefonhörer in die Hand zu nehmen um Worte zu sagen, die nicht zu meiner sonstigen Freundlichkeit passen und wahrscheinlich sowieso den Falschen treffen.

 

Stattdessen tue ich etwas Sinnvolles. Etwas, das meinen inneren Ärger-Elefanten wieder beruhigt. Ich backe. Apfelkuchen soll es werden. Eine meditative Tätigkeit, das Obst zu schälen und darauf zu achten, dass mein Kind sich beim Schneiden der Apfelstücke nicht den Finger absäbelt. 

Digitalisierungs-Drama Teil 2: In der Klinik

Wenige Tage später betrete ich nichtsahnend meinen Arbeitsplatz als Klinik-Psychologin. Hinter der allgegenwärtigen Flasche mit Händedesinfektion das Bild einer Tulpe aus dem Amsterdamer Keukenhof und ein Gaudi-Gebäude in Barcelona. Urlaubserinnerungen, die mir immer ein Lächeln auf die Lippen zaubern, egal wie dramatisch die Geschichten meiner Klienten gerade sind. Nach drei Anläufen habe ich endlich das Passwort meines E-Mail-Accounts richtig geschrieben, obwohl meine Finger über die Tasten fliegen, als wäre der Mäusebussard hinter einer Meise her.

 

Und dann ploppt ein Fenster auf: Eine neue E-Mail. Als ich sie öffne, habe ich das Gefühl, mir stellen sich die Haare auf wie dem rothaarigen Kobold Pumuckl wenn er Käse sieht. „Arbeitnehmer Online“ ist die Überschrift. Bitte nicht schon wieder. Während ich die 207 Wörter lese, beginnt mein innerer Ärger-Elefant bereits damit, den Porzellan-Laden völlig platt zu machen.

 

Der Austausch der Gehaltsabrechnungen soll erleichtert werden. Aha. So schwer kam mir das bisher gar nicht vor. Selbstverständlich sei für Datensicherheit gesorgt. Denn es gebe eine Zwei-Faktor-Authentifizierung. Dafür brauche man nur eine App. Ich sehe innerlich gerade, wie der Speicher meines Mobiltelefons explodiert. Vielleicht ist die App jetzt die neue Kundenkarte. Man öffnet also nicht mehr den Geldbeutel und lässt 35 Mitgliedskarten von diversen Läden herausplumpsen, sondern man macht Handy-*pieps*-Längen-Vergleich.

 

Beruhigen kann ich mich erst wieder, als ich erfahre, dass das digitale Lohnabrechnungssystem immerhin die Kolleginnen aus der Buchhaltung entlastet. 200 Mal weniger Zettel ins Kuvert eintüten und ablecken im Monat. Das ist doch immerhin ein Gewinn für eine Berufsgruppe. Und ich kann jetzt beruhigt meine ausgedruckte Lohnabrechnung verlieren. Denn ich habe jederzeit selbstständig Zugang zu einem neuen Exemplar. Ketzerisch gefragt: fördert das eigentlich neben der Eigenverantwortung auch die Demenz?

Quo vadis Deutschland in der Digitalisierungswüste?

Was ist eigentlich los mit dieser Welt? Unter dem Deckmäntelchen von Umweltschutz,  Fortschritt und erhöhter Usability (Sorry, Anglizismen waren gerade im Sonderangebot) gibt es gerade eine Welle der Digitalisierung. Und zwar häufig - Zitat Kindergarten -  „weil das alle Anderen auch schon haben“. Falls der Trend, sich von Autobahnbrücken zu stürzen, aufkommt – ich sage jetzt schon: ich bin nicht dabei.

 

Und bitte nicht falsch verstehen. Ich bin kein Digitalisierungsgegner. Im Gegenteil. Ich erledige sowohl privat als auch beruflich sehr viel digital. Handy, Laptop, Tablet, E-Book-Reader, Musik streamen, Hörbuch über Autolautsprecher anhören – das alles sind meine Freunde. Ich baue Websites, nutze Grafikdesign über Canva, bin Dauergast in diversen sozialen Medien. Buchhaltung und Steuererklärung laufen digital. Das Berichtswesen bezüglich meiner Klienten. Und so viele andere Dinge des täglichen Lebens.

 

Aber es muss halt Sinn machen. Warum braucht eine bayerische 2500-Seelen-Gemeinde einen digitalisierten Kindergarten? Reicht es nicht anzurufen und zu sagen: „Der Josef ist krank.“ Oder meinetwegen auch die Chantal-Jacqueline? Manchmal ist die Digitalisierung der Tod jeglicher persönlicher Kommunikation und Beziehung. Es wäre nämlich wichtig zu wissen was die Chantal hat, wie hoch ihr Fieber ist, wie lange sie das schon hat, ob man mit ihr beim Arzt war und ob es sicher keine Hand-Mund-Fuß Erkrankung ist, mit der man den Kindergarten länger nicht betreten sollte. Und wenn ich trotz App anrufen muss, um diese Zusatzinfos zu geben, ist das wohl eher doppelter Zeitverbrauch als eine Erleichterung. 

 

Außerdem ist vielen nicht bewusst, dass durchaus die Gefahr besteht, dass so mancher Arbeitsplatz vielleicht wegdigitalisiert werden könnte, wenn es so weitergeht. Oder es kommt der Punkt, wo man sich nochmal wünschen würde, seine Zeit mit Lohnabrechnungen-eintüten verbringen zu können. #sorrynotsorry

 

Hier bleibe ich lieber analog

Anstatt der Digitalisierungs-Kuhherde blind zu folgen, haben mich diese beiden Ereignisse stark ins Denken gebracht. Und zwei Dinge haben sich dabei klar gezeigt - wie vom Spot einer Taschenlampe beleuchtet. 

 

  1. Es ist völlig legitim, Digitalisierung zu hinterfragen und Nein zu sagen, wenn einem das Herum-ge-digitalisiere zu viel wird. In puncto Kindergarten ging das zum Beispiel ganz einfach. Zwei kurze Gespräche. Ende. Keine Handy-App. Gelobet sei der persönliche Kontakt. 
  2. Es gibt Dinge, deren Qualität für mich deutlich überwiegt, wenn sie analog sind. So werde ich mich auf keinen Fall davon abhalten lassen, diese mit wehenden Fahnen zu verteidigen:
  • Terminkalender (Stürzt garantiert nie ab.)
  • Klebezettel (Ergänzen auf einfachste Art und Weise bestehende Infos und lassen sich auch an den Kühlschrank kleben. Probier das mal mit Deinem digitalen Notizbuch.)
  • Tagebuch/Bullet Journal (Schreiben ist auch Verarbeitung und Therapie. Das funktioniert handschriftlich ganz anders als beim Tippen.)
  • Sketchnotes-Papier und echte Stifte (Ein Hoch auf kreative Prozesse ohne künstlichen Perfektionismus durch dreimaliges Löschen, weil die Linie nicht gerade geworden ist.)
  • Bücher (Ja, ich besitze auch einen Kindle. Aber es ist etwas ganz Anderes, ein Buch in der Hand zu halten, es zu riechen. Du verstehst bestimmt meinen Punkt.)

Welche Dinge fallen Dir noch ein, die analog einen Mehrwert haben? Schreib sie mir gern in die Kommentare.

 

Digitalisierung ist cool, wenn sie uns das Leben erleichtert. Wenn sie einen Prozess vereinfacht oder verschnellert. Wenn wir durch sie etwas erleben, was vorher nicht möglich war. Digitalisierung darf aber nicht menschliche Kommunikation ersetzen. An der mangelt es doch ohnehin allerorten. Digitalisierung um der Digitalisierung willen oder unter Schutzbehauptungen ("Wir tun auch was für die Umwelt") ist Bullshit. 

Lust auf noch mehr klare Worte?


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Kommentare: 1
  • #1

    Karin (Montag, 26 Februar 2024 10:52)

    * Skizzenbücher und einen Stift. Beides kann ich immer und jederzeit mitnehmen und ggf. anderen Interessierten auch den Inhalt zeigen, ohne dass mein Handy mal wieder am Abstürzen ist oder den anderen ist der Handy-Bildschirm viel zu klein...
    * ein medizinisch sehr sehr guter Grund fürs Analog arbeiten: den Augen tut das gut! Ja, kein Witz, wenn man das selber erlebt hatte und die Augen tagelang gestreikt haben von viel zu viel Bildschirmarbeit ... :-/
    * Notizen schreibe ich auch viel lieber analog, da lässt es sich viel besser Denken! Da hab ich pro Hauptthema sogar jeweils ein Notizbüchlein angeschafft. :)